Johann Gotthard von Müller (1747-1830)

Selbstbildnis der Malerin Louise Elisabeth Vigée Lebrun

nach einem Gemälde von Louise Elisabeth Vigée Lebrun (1755 Paris – 1842 Paris)

um 1783-1785

Kupferstich und Radierung

auf dem Sockel: LOUISE ELISABETH VIGEE LE BRUN / de l´Academie Royale de Peinture

Links: Peint par L. E. Vigee LeBrun /  Mitte: Imprimé par Damour / Rechts: Gravé à Stouttgard par J. G. Müller de l´Academie Royale de Peinture &.

Plattengröße: 43,4 x 31,7 cm, Blattgröße: 44 x 33 cm

Johann Gotthard von Müller

(1747 Bernhausen – 1830 Stuttgart)

In unserer Sammlung befindet sich ein repräsentativer Querschnitt des vorwiegend als Reproduktionsstecher tätigen Johann Gotthard Müller. Müller war erster Professor des 1776 vom württembergischen Herzog Carl Eugen an dessen renommierte „Hohe Carlschule“ angegliederten Kupferstecherei-Instituts. Er war einer der hervorragendsten Kupferstecher seiner Zeit und steht am Beginn von rund 250 Jahren Graphische Künste in Stuttgart bzw. Württemberg.

Johann Gotthard Müller – der begabte Zeichner

Johann Gotthard Müller wurde am 4. Mai 1747 als Sohn des Schultheißen Johannes Müller in Filderstadt-Bernhausen geboren. Seine aus einem Pfarrhaus stammende Mutter Maria Regina (geborene Bischoff)1, sowie eine Reihe Geistlicher aus der engeren Verwandtschaft bereiteten den jungen Johann Gotthard auf seine, zunächst wohl unumgängliche, Laufbahn als Geistlicher vor.2  Ab dem 14. Lebensjahr besuchte er, als Voraussetzung für das spätere Studium am Tübinger Theologischen Seminar, das Gymnasium in Stuttgart. Zu dieser Zeit gab es aber auch das Angebot der 1761 von Herzog Carl Eugen (1728 bis 1793) eingerichteten Académie des Arts, an einem öffentlichen Freihand-Zeichenunterricht teilzunehmen.

Dem Herzog war vor allem daran gelegen, junge begabte Landeskinder – aus allen Gesellschaftsschichten – zu entdecken, zu fördern und an sich zu binden. Jene sollten dann, anstatt der kostspieligen Künstler aus Italien und Frankreich, für die herzoglichen Bauten und deren Ausstattung sowie für die 1758 errichtete Ludwigsburger Porzellanfabrik tätig werden.3

Jeweils ein bis zwei Stunden täglich4  besuchte der junge Gymnasiast die im Prinzenbau des Neuen Schlosses5 untergebrachte Zeichenschule. Bereits im ersten Jahr wurde der begabte J. G. Müller für seine Zeichenkünste mit einem Preis ausgezeichnet. Der Leiter der Zeichenschule Nicolas Guibal (1725 bis 1784) machte den Herzog auf J. G. Müllers Begabung aufmerksam. Herzog Carl Eugen versuchte in den folgenden Jahren mehrfach, Johann Gotthard Müller zu überreden, seine Theologen-Laufbahn abzubrechen und sich ganz den Künsten zu widmen. J. G. Müller widerstand jedoch, in seiner Weigerung von der Familie unterstützt. Doch nur wenige Tage bevor er in das Tübinger Stift aufgenommen werden sollte, gaben er und sein Vater, dem Drängen ihres Herzogs nach.7 Mit einem jährlichen Stipendium von 100 Gulden begann Johann Gotthard Müller im September 1764 seine 6-jährige Ausbildung an der Stuttgarter Kunstakademie. Bei Hofbaumeister Philippe de la Guêpière (1715 bis 1773) sollte Müller die Civilbaukunst8 erlernen, beim „Premier Peintre du Duc de Wurtemberg“9 Nicolas Guibal, die Malerei. Über J. G. Müllers Ausbildung bei Guêpière haben sich keine Unterlagen erhalten. Dieser quittierte 1768 den herzoglichen Dienst und kehrte nach Paris zurück.10 Wohl spätestens ab diesem Zeitpunkt konzentrierte sich J. G. Müller auf Malerei und Zeichenkunst.

Nach Streitigkeiten zwischen den Landständen und dem Herzog wurde der Hof 1766 von Stuttgart nach Ludwigsburg verlegt und mit ihm auch die Akademie der Schönen Künste.11 Ein bedeutender Mitschüler J. G. Müllers in den Jahren 1764 bis 1768 war Heinrich Friedrich Füger (1751 bis 1818)12, der später in Wien, vermittelt durch Guibal, einer der bekanntesten und einflussreichsten Maler des Klassizismus werden sollte.13

1 August Wintterlin: Johann Gotthard Müller. In: Württembergische Künstler in Lebensbildern, Stuttgart 1895, Seite 33-51, hier S. 33.
2 Andreas Andresen: Leben und Werke der beiden Kupferstecher Johann Gotthard von Müller und Johann Friedrich Wilhelm Müller. In: Robert Naumann (Hrsg.): Archiv für die zeichnenden Künste mit besonderer Beziehung auf Kupferstecher- und Holzschneidekunst und ihre Geschichte, 11. Jg., 1. Heft, Leipzig 1865, S. 1–45, hier S. 1.
3 Robert Uhland: Geschichte der Hohen Carlschule. In: Katalog der Ausstellung „Die Hohe Carlsschule“, Stuttgart 1960; S. 16.
4a Wintterlin berichtet von einer Stunde täglich; in: August Wintterlin: Johann Gotthard (von) Müller. In: Allgemeine Deutsche Biographie,1885, Band 22; S. 610-616, hier S. 610.
4b Uhlig berichtet von zwei Stunden täglich in: Wolfgang Uhlig: Die künstlerische Ausbildung an der Hohen Carlsschule. In: Schwäbischer Klassizismus – zwischen Ideal und Wirklichkeit, Stuttgart 1993; Band Aufsätze, S. 47
5 Wolfgang Uhlig: Nicolas Guibal (1725-1784). Daten zu Leben und Werk. In: Nicolas Guibal – Zeichnungen. Katalog Staatsgalerie Stuttgart, 1989; S. 12.
6 Wintterlin (wie Anm. 1).
7 Ebd.; S. 34
8 Andresen (wie Anm. 2); S. 2
9 Corinna Höper: Die Sammlung Nicolas Guibal. In: Ausstellungskatalog Das Glück Württembergs – Zeichnungen und Druckgraphik europäischer Künstler des 18. Jahrhunderts; Stuttgart 2004; S. 161
10 Schloesser-Magazin; 300 Jahre Schloss Ludwigsburg – Künstler im Schloss; Pressetext
11 Uhlig 1993 – wie in Anm. 4; hier S. 48.
12 Wintterlin (wie Anm. 1); S. 34
13 Umfassend in: Heinrich Friedrich Füger – Zwischen Genie und Akademie, Ausstellungskatalog, Heilbronn 2011

Johann Gotthard Müller zur Ausbildung in Paris (1770 bis 1776)

Nach sechsjähriger Lehrzeit in der Akademie, wurde J. G. Müller 1770, auf ausdrücklichen Wunsch des Herzogs, zur weiteren Ausbildung zum Kupferstecher nach Paris gesandt. Die wieder auf sechs Jahre angelegte und dieses Mal mit einem jährlichen Stipendium von 400 Gulden ausgestattete Ausbildung sollte bei Johann Georg Wille (1715 bis 1808) erfolgen.14 Der in Gießen geborene Wille lebte bereits seit 1737 in Paris und gilt als einer der berühmtesten Kupferstecher des 18. Jahrhunderts. Bis in die 1790er Jahre bildete Wille ungefähr 70 Stecher aus, wobei die meisten Schüler bereits zuvor ein künstlerisches Studium absolviert hatten.15 Den Stil Willes und somit auch das, was man von J. G. Müllers Ausbildung in Paris erhoffte, schildert Wintterlin 1895: (Wille)…er war damals der vorzüglichste Vertreter der sogenannten stoffbezeichnenden, oder, sagen wir lieber, malerischen Manier des Kupferstichs, die jedem Materiale nach seiner Art, selbst nach seiner Farbe mit dem Grabstichel gerecht zu werden und dadurch die ganze Farbenwirkung eines Gemäldes wiederzugeben sucht. Müller, der, ehe er zu Wille kam, nie einen Stichel in der Hand gehabt hatte, machte sich die virtuose Technik des Meisters in überraschend kurzer Zeit zu eigen.16 Es war nicht J. G. Müllers eigener Wunsch, sich zum Kupferstecher ausbilden zu lassen17, sondern wohl vor allem merkantile Überlegungen des Herzogs und der herzoglichen Rentkammer. In den Jahrzehnten vor der Erfindung der Fotografie, war der Bedarf an hochwertigen Abbildungen für druckgraphische Erzeugnisse enorm. Württemberg verfügte jedoch über keine ordentlich ausgebildeten Kupferstecher, so dass Aufträge dieser Art ins ‚Ausland‘ – vor allem nach Augsburg, Nürnberg und Paris – gegeben werden mussten. …alle solcherley arbeiten das Gaeld außer lands gehet18 Johann Gotthard Müller hatte sich unter den Zöglingen Guibals für diese Tätigkeit wohl als besonders geeignet erwiesen. … daß selbiger (J. G. Müller) um seine geschicklichkeit im Zeichnen, und große Aufmercksamkeit und Gedul(d)s im copieren willen sich vorzüglich zur Kupferstecherey anschicken würde.19 J. G. Müllers Ausbildung in Paris hatte das Ziel, dass dieser bei seiner Rückkehr ein Kupferstecherei-Institut aufbauen könne, das sowohl den aktuellen Anforderungen des Marktes gerecht werde, als auch die Technik der Graphik an weitere Generationen vermitteln könnte.20   

14 Wintterlin (wie Anm. 4) S. 610
15 Andreas Henning: „Premier Graveur de S.A.S. l` électeur de Wurtemberg“, Johann Gotthard Müller und das Kupferstecherei-Institut an der Hohen Carlsschule, in: „Das Glück Württembergs“, Ausstellungskatalog, Stuttgart 2004, S. 112-145; hier S. 113f.
Zu Wille und seinem Atelier s. grundlegend: Hein-Theodor Schulze-Altcappenberg: Johann Georg Wille und seine Schule in Paris, Münster 1987, v. a. S. 60ff.
16 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 35f.
17 Wintterlin (wie Anm. 14)
18 Henning (wie Anm. 15) S. 114 (zitiert hier ein Dekret von 1770)
19 Ebd.
20 Ebd.; S. 114

Die Werke der Pariser Jahre

Die Technik des Kupferstichs scheint Wille seinem Schüler zunächst durch das Kopieren von herausragenden Graphiken beigebracht zu haben. Die Linienführung,  das An- und Abschwellen des Strichs oder die Enge und Weite der Schraffuren hat  J. G. Müller nach Stichen von Hendrick Goltzius (1558 bis 1616/17) studiert. Den nach Goltzius seitenverkehrt angefertigten Stich Bacchus und der kleine Faun griff J. G. Müller in seinem Kupferstecherei-Institut als Vorlage für seine Schüler wieder auf.21

Der 1773 entstandene Stich La Nymphe Erigone22 nach einem Gemälde des französischen Hofmalers Nicolas-René Jollain (1732 bis 1804) bezeichnete Müller als erste Platte und widmete ihn seinem Herzog Carl Eugen. Es handelt sich auch um den frühesten, in der Sammlung des Heimat- und Kunstvereins vorhandenen Stich J. G. Müllers. Ungewöhnlich ist bei diesem Exemplar, dass die Graphik (wohl bald nach ihrer Entstehung) koloriert wurde. Das früheste in der städtischen Riecker-Sammlung befindliche Werk ist ein 1775 nach einem frühen Selbstbildnis des damaligen Direktors der Pariser Akademie Jean-Baptiste Marie Pierre (1714 bis 1789)23 gestochenes Blatt. Ebenfalls 1775 begann J. G. Müller mit drei weiteren Platten, die er im folgenden Jahr vollendete. Hierbei handelt es sich um die Bildnisse des Malers Louis Galloche24 sowie des im Heimat- und Kunstverein vorhandenen Bildhauers Louis Leramberg25 und des im Städtischen Besitz befindlichen Kupferstechers Jean Georg Wille26. Mit den Stichen von Galloche und Leramberg bewarb sich J. G. Müller um die Aufnahme als Kupferstecher in die Pariser „Académie Royale de Peinture et de Sculpture“. Das Prozedere zur Mitgliedschaft von Kupferstechern, die seit 1655 an der Akademie aufgenommen werden konnten, sah vor, dass der Student zwei Porträtstiche nach Gemälden einzureichen hatte. Als Vorlagen dienten Bildnisse der Akademiemitglieder.27 Das Bildnis des Bildhauers Louis Lerambergs (1620 bis 1670), das J. G. Müller als Vorlage diente, war von Alexis Simon Belle (1674 bis 1734) für die Mitgliedschaft in der Akademie 1704 gemalt worden. J.G. Müller modifizierte das Gemälde, denn er musste die Vorlage in einen ovalen Rahmen einpassen. Insbesondere die Haltung des linken Arms musste reduziert werden. Auch die rechte Hand, die auf dem Kopf einer Statue ruht, ist eine Neukomposition. Den hochovalen Rahmen hat J. G. Müller mit berufsspezifischen Attributen versehen.28 Am 30. März 1776 legte er der Akademie beide Stiche vor. Sein Lehrer Wille notierte: Ich begab mich in die Akademie, wo mein Zögling, Joh. Gotth. Müller, zwei Bildnisse hatte ausstellen lassen, die er für seine Aufnahme gestochen hatte: das eine ist dasjenige des Bildhauers Leramberg und das andere des Malers Galoche. Ich hatte die Genugthuung, meinen Zögling mit Beifall aufgenommen zu sehen, er hatte nicht eine Stimme gegen sich… Er hat reissende Fortschritte gemacht, weil er, als er zu mir kam, noch nie einen Grabstichel geführt hatte. Er ist Unterthan des Herzogs von Würtemberg und dessen Pensionär. Dieses Jahr (1776) soll er nach Stuttgart zurückkehren, was ich sehr bedauere; er wäre zu Paris sehr nützlich gewesen, wo er die gute Manier, die man anwenden muss, um Portraits zu stechen, hätte aufleben lassen.29 Im Sommer 1776 vollendete J. G.  Müller das oben erwähnte und bereits von Apotheker Riecker für seine Sammlung erworbene Blatt von Johann Georg Wille. Dem Stich diente ein 1763 entstandenes Gemälde von Jean-Baptiste Greuze (1725 bis 1805) als Vorlage. Wille, mit Brokatweste gekleidet, wird als Bürger dargestellt. Kein Attribut nennt seinen Beruf. Allein die Schrifttafel in der Umrahmung verweist auf den „Graveur du Roi“.30 Johann Gottlob von Quandt schrieb 1826 in seiner „Geschichte der Kupferstecherkunst“: …wäre Wille nicht selbst unvergesslich, so wäre er durch dieses Portrait verewigt worden, in welchem Müller die Eleganz des Stiches seines Meisters mit der Kraft des Tons, welche Schmidts’ Arbeiten (Georg Friedrich Schmidt, 1712 bis 1775) auszeichnet, verband und welches er mit dem ihm eigenen Sinn für malerische Wirkung vollendete.31 Wintterlin notierte 1885: ein farbenwarmes, an Rembrandt erinnerndes Blatt, bei welchem sichtlich die Dankbarkeit die Hand des Künstlers leitete, wie es denn auch Wille selbst für das beste von fünf verschiedenen Bildnissen erklärte, die man von ihm gestochen habe.32 

21 Henning (wie Anm.15), S. 114f. Aus der Gründungsphase der Stuttgarter Kupferstechereischule existiert der Stich von folgenden Schülern: Johann Friedrich Leybold, Johann Ludwig Gabriel Necker, und Christian Jakob Schlotterbeck – jeweils mit der Datierung 1777. Die Stiche nach Goltzius sind jedoch seitengleich, d. h. es diente demnach Müllers Stich nach Goltzius den Schülern als Vorlage. Ausstellungs-Katalog Die Hohe Carlsschule, Stuttgart 1959/60; Nr. 683, 689 und 690.
22 HKV-2012-23. Christian Rümelin: Johann Gotthard Müller und das Stuttgarter Kupfertecherei-Institut, Katalog der druckgraphischen Werke von J.G.Müller und J.F.W.Müller, Stuttgart 2000; Nr. 7 – S. 203.
23 Ebd. – Nr. 9 – S. 204. Riecker-Sammlung Nr. 336
24 Ebd. – Nr. 10 – S. 204
25 Ebd. – Nr. 11;  HKV 2016-05
26 Ebd. – Nr. 12; Riecker-Sammlung Nr. 337
27 Henning (wie Anm. 15), S. 115
28 Henning (wie Anm. 15), S. 116
29 Andresen (wie Anm. 2), S. 2
30 Henning (wie Anm. 15), S. 114
31 Johann Gottlob von Quandt: Entwurf zu einer Geschichte der Kupferstecherkunst und deren Wechselwirkungen mit andern zeichnenden Künsten, Leipzig 1826; S. 170.
32 Wintterlin (wie Anm. 4), S. 611

Aufbau der Kupferstecherschule unter Herzog Carl Eugen von Württemberg

Noch vor der Fertigstellung der Platte mit dem Bildnis seines Lehrers Wille erfolgte J. G. Müllers Rückruf nach Württemberg. Reizvolle Angebote aus Kassel und Paris – wie auch später aus Dresden, Wien oder Mailand, wo er ebenfalls eine Kupferstecher-Schule aufbauen sollte – musste er ausschlagen. Im November 1776 kehrte Müller nach Stuttgart zurück.

Bereits im Jahr zuvor war die Residenz und mit ihr auch die Kunstakademie von Ludwigsburg wieder nach Stuttgart verlegt worden. Ebenso erhielt die zunächst als Militärakademie auf der Solitude gegründete „Hohe Carlsschule“ in der großen umgebauten Karlskaserne, südlich des Residenzschlosses, ihr neues Domizil.33 Der Kunstunterricht der Académie des Arts wurde unter der Leitung von Nicolas Guibal, der nun auch den persönlichen Rang der wissenschaftlichen Professoren erhielt, in den Gesamtplan der Akademie eingegliedert. Mit der Ernennung der Hohen Carlsschule zur Universität (1782) wurde die Fakultät der Künste – für die Zeit ganz ungewöhnlich – den wissenschaftlichen Fächern gleichgestellt.34

33 Uhland (wie Anm. 3), S. 24. Die 1772 in Ludwigsburg gegründete Ecole des Demoiselles wurde in das Alte Schloss in Stuttgart verlegt. Das Gebäude der Hohen Carlsschule wurde im 2. Weltkrieg zerstört und die Ruinen 1959 beseitigt.
34 Werner Fleischhauer: Die Kunst der Hohen Carlsschule. In: Katalog der Ausstellung „Die Hohe Carlsschule“, Stuttgart 1959/60; S. 56-70; hier S. 62

Johann Gotthard Müllers erste Kupferstiche in Stuttgart

In Stuttgart angekommen erhielt J. G. Müller den Titel „Premier graveur de Son Altesse“ und wurde als Professor für Kupferstecherkunst mit dem hohen Gehalt von 1000 Gulden sowie einem Freimonat angestellt.35 Seine Hauptaufgabe war die Gründung und Organisation einer Kupferstecherschule. Diese wurde zunächst als 8te Abtheilung dem Gesamtorganismus der Hohen Carlsschule hinzugefügt. Da es erst nicht gelang, einen zweiten Lehrer für die Ausbildung der Anfänger sowie einen geeigneten Drucker zu finden, blieb J. G. Müller kaum Zeit für eigene Werke. Bis 1778 erschien kein einziges Blatt von ihm.36

Hatte sich J. G.  Müller bisher als Porträtstecher etabliert, versuchte er nun, sich in Stuttgart auch als Historienstecher zu profilieren. Sein erstes Werk in diesem Metier ist das zwischen 1779 und 1781 gestochene Blatt  Alexandre vainqueur de soi-méme (die Selbstüberwindung Alexanders d. Gr.) nach einem Gemälde von Govaert Flinck (1615 bis 1660), das sich in der Galerie der Gräfin Franziska von Hohenheim befand.37 Gewidmet wurde das ausschließlich gestochene Blatt (anstatt der sonst von ihm angewandten Mischung aus Kupferstich und Radierung) der Großfürstin Maria Feodorowna von Russland.38 Rümelin beschreibt die Darstellung: Dargestellt ist nicht der Moment, in dem Alexander seine Favoritin dem Maler zum Geschenk macht, sondern derjenige Moment, in dem Apelles sich in die entkleidete Campaspe verliebt. Dementsprechend werden im Stich diese beiden Personen durch die Beleuchtung, die hinterfangenden dunkleren Partien und die Leinwand auf der Staffelei hervorgehoben, während Alexander durch die dunklere Kleidung, die im Vergleich zum hellerleuchteten Frauenkörper engere und dunklere Schraffur sowie die teilweise Verdeckung durch die Frau optisch in den Mittelgrund zurücktritt.39

Das Blatt wurde kontrovers beurteilt. Während Andresen es als glänzend gestochene Composition40 bezeichnet,  notiert Wintterlin: Das Blatt ist wohl die schwächste von seinen Arbeiten aus früheren Jahren.41 Allerdings bemängelt Andresen auch die Qualität der Vorlage: erst in Stuttgart warf er sich auf das historische Fach, wobei zu bedauern bleibt, dass ihm nicht gleich anfangs würdigere Originale zu Gebote standen.42 Mangels erfahrener Drucker konnte der Druck des Stiches nicht in Stuttgart erfolgen. So reiste J. G. Müller mit seiner jungen Familie im Frühjahr 1781 nach Paris um dort seine erste größere Platte drucken zu lassen. In der Stuttgarter Kupferstecherschule wurde er währenddessen durch einen seiner ersten Schüler vertreten, den sehr begabten und nun zum Hofkupferstecher ernannten Johannes Friedrich Leybold (1755 bis 1838).43

Die Reise nahm jedoch einen schmerzlichen Ausgang: Seine erst 21jährige Frau Charlotte, starb in Paris an einer Fiebererkrankung.44  Im Jahr zuvor hatte der mit Müller befreundete Maler Johann Friedrich August Tischbein (1750 bis 1812) von ihr und dem Töchterchen ein Pastell angefertigt. 1782 bis 1783 schuf J. G. Müller den „La Tendre Mère“ betitelten Stich nach diesem Gemälde.45

Im Januar 1782 heiratete Müller Rosine Schott, Tochter des Oberamtsmannes aus Urach. Aus dieser Ehe erreichten vier Söhne und zwei Töchter das Erwachsenenalter; drei weitere Kinder starben früh. Der am 11. Dezember 1782 in Stuttgart geborene Johann Friedrich Wilhelm Müller (gest. 3. Mai 1816), sollte neben seinem Vater und Lehrer Johann Gotthard Müller, als der bedeutendste Kupferstecher der Stuttgarter Kupferstecherschule in die Geschichtsbücher eingehen.46

Im selben Jahr vollendete J. G. Müller die Platte zu seinem zweiten Historienstich: „Lot mit seinen Töchtern“ nach Gerrit van Honthorst (1592 bis 1656).47 Da die Werkverzeichnisse im 19. Jahrhundert meist keine Abbildungen enthielten, musste das jeweilige Werk beschrieben werden. Andresen48 beschreibt die Darstellung folgendermaßen: Loth, in dessen Gesicht bereits die Wirkungen des Weines ausgedrückt sind, sitzt in der Mitte zwischen seinen beiden Töchtern, er wendet das Gesicht zu der links stehenden, während er von der anderen, deren Brust halb entblösst ist, eine Schale mit Wein annimmt, letztere erhebt lachend die Rechte, welche Bewegung der Schwester gilt, sei es als Zeichen des Triumphes oder der freundlichen Warnung, noch nicht so rasch zur beabsichtigten That zu schreiten…. Zwischen 1783 und 1785 entstand eines der Hauptwerke und zugleich eines der populärsten Blätter J. G. Müllers, der Stich nach einem Selbstbildnis der Malerin Louise Elisabeth Vigée Lebrun (1755 bis 1842).49 Der Erfolg dieses Werkes führte  zu einem ehrenvollen  Auftrag aus Paris: dem ganzfigurigen Krönungsporträt König Ludwigs XVI. von Frankreich.

35 Erwin Petermann: Joh. Gotth. Müller und die Kupferstecherschule der Hohen Carlsschule. In: Katalog der Ausstellung „Die Hohe Carlsschule“, Stuttgart 1959/60; S. 71-81; hier S. 75;
Das Jahreseinkommen eines gut verdienenden Handwerkers betrug zu dieser Zeit etwa 200 Gulden, siehe Anm. 175 in: Sabine Rathgeb: Studio & Vigilantia, Stuttgart 2009, S. 42.
36 Wintterlin (wie Anm. 4), S. 612
37 Ebd.; Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 15;  S. 206f. HKV 2016-16;
Franziska von Hohenheim (1748 bis 1811), war seit 1772 offizielle Maitresse des Herzogs; seit 1785 die 2. Ehefrau Herzog Carl Eugens.
38 Andresen (wie Anm. 2), S. 21f. In der Regel hatte Müller für seine Graphiken immer eine der Zeit übliche Mischung von Kupferstich und Radierung angewendet.
39 Rümelin (wie Anm. 22), S. 58
40 Andresen (wie Anm. 2), S. 21
41 Wintterlin (wie Anm. 4), S. 612
42 Andresen (wie Anm. 2), S. 5
43 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 39. Der auch als Miniaturmaler bedeutende Leybold (zunächst u. a. von Guibal ausgebildet), wurde 1812 Professor für Kupferstecherei an der Wiener Akademie. Literatur zu Leybold u. a. im Ausstellungs-Katalog „Die Hohe Carlsschule“, Stuttgart 1959/60; Seite 75 und 203f.
44 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 40. Charlotte Catharina „Lottchen“, Tochter der Stuttgarter Gastwirtsfamilie Schnell, deren Gasthof „Zum Adler“ durch Schiller und Schubart als „Sammelpunkt der schönen Geister Stuttgarts“ bekannt wurde. Lit. ebd. S.39.
45 Ebd.; Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 17; S. 208 und 45ff. Riecker-Sammlung Nr. 338. Tischbein malte 1782 auch Müllers zweite Frau (Dieses Pastell erschien jedoch nicht als Stich). Das ebenfalls 1782 entstandene Pastell mit dem Bildnis Johann Gotthard Müllers, wurde später von dessen Schüler Ernest Morace (1766 bis um 1820) gestochen (HKV 2015-10).
46 Ausführlich zu diesem Künstler in einem späteren Jahrbuch-Artikel.
47 Rümelin (wie Anm. 22) Nr. 16, S. 207f. Mit Abbildung der Vorzeichnung Müllers in Henning (wie Anm. 15), S. 116ff. HKV 2016-20.
48 Andresen (wie Anm. 2), S. 15f.
49 Rümelin (wie Anm. 22) Nr. 18. Katalog Meisterwerke alter Druckgraphik aus der Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1983, S. 222.

Louis Seize

Im April 1785 reiste J. G. Müller in Begleitung des jungen Verlegers Johann Friedrich Cotta (1764 bis 1832) und des Malers Eberhard von Wächter (1762 bis 1852)50 nach Paris, um dort vor dem Originalgemälde des französischen Königs von Jean Siffred Duplessis (1725 bis 1802) die Zeichnung zur Übertragung in den Kupferstich anzufertigen. Bereits diese Zeichnung wurde vom „Mercure de France“ im Oktober 1785 überschwänglich gelobt.51 Bis 1790 arbeitete J. G. Müller an diesem Stich. Letzte Korrekturen wollte er vor dem Original in Paris vornehmen, doch seine Reisevorhaben wurden aufgrund der unsicheren politischen Lage abgelehnt.

Der vollendete Kupferstich erschien erst 1793 – nicht wie von J. G. Müller ursprünglich geplant in Paris oder London gedruckt, sondern durch einen aus Paris stammenden Drucker namens Ramboz, beim Nürnberger Verleger und Kunsthändler Frauenholz. Obgleich König Ludwig XVI. bereits am 21. Januar 1793 enthauptet worden war, war die Nachfrage nach diesem, von der Kunstwelt sehnsüchtig erwarteten Stich gewaltig. Das „Journal des Luxus und der Moden“ stellte 1793 fest, es sei vielleicht das schönste und vollkommenste Werk, das der Teutsche Grabstichel in diesem Jahrhunderte lieferte…52 Im Verlagskatalog von Frauenholz war zu lesen: Das einstimmige Urtheil wahrer Kenner hat bereits über dieses Meisterwerk des deutschen Grabstichels entschieden und ihm unter den vorzüglichsten Produkten alter und neuer Kupferstecherkunst eine der ersten Stellen angewiesen. Den Glanz verschmähend, der das Auge der Menge und des Halbkenners besticht, hat der Meister die Wahrheit allein zu seinem Hauptaugenmerk gemacht und in diesem Blatt Alles vereinigt, was die Kunst zur täuschendsten Nachahmung der Natur bietet.53 Bei Andreas Henning lesen wir: Gerade in der Darstellung des Krönungsmantels ist ersichtlich, dass Müller ein Meisterwerk der Reproduktionsgraphik erstellt hat. Die Taktilität des Hermelin, die Stofflichkeit des mit Lilien bestickten Umhangs, die Lichtreflexe in dem um die hohe Säule drapierten Brokatvorhang, die Präsenz des Sessels und des Lilienzepters, alle diese malerischen Phänomene geben Zeugnis von der noch einmal am Ende des 18. Jahrhunderts ungemein hochstehenden Qualität des Kupferstichs. 54

50 Wächter kehrt nach seinem Aufenthalt in Paris und anschließend Rom, erst 1808 nach Stuttgart zurück und gilt als einer der wichtigsten Maler des deutschen Klassizismus.
51 Henning (wie Anm. 15), S. 124f. und Wintterlin (wie Anm. 1), S. 40ff.
52 Ebd.
53 zitiert in Andresen (wie Anm. 2), S. 10
54 Henning (wie Anm. 15), S. 125. Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 19, S. 209ff. und 47ff. HKV 2014-32. Das monumentale Blatt (Plattengröße: 70 x 54 cm) in der Sammlung des Heimat- und Kunstvereins, wurde in Franken bei einem Flohmarkthändler entdeckt und ist leider schlecht erhalten, aber dennoch ein eindrucksvolles Belegstück.

Die Schüler der Stuttgarter Kupferstechereischule

1781 zählte das Kupferstecherei-Institut bereits acht Zöglinge.55 Primäre Aufgabe der Stecherei war die Ausbildung von Kupferstechern. Darüber hinaus sollte sich aber dieses Institut soweit wie möglich selbst tragen. Dies bedeutete, dass die Stecherei nicht Ausbildungsstätte blieb, sondern sich zu einer wirtschaftlich ausgerichteten Institution entwickelte.56 Ab 1789 stand J. G. Müller mit seinem ehemaligen Schüler, dem Hofkupferstecher Johann Friedrich Leybold (1755 bis 1838), ein zweiter Lehrer zur Verfügung, der ihn im Zeichenunterricht entlasten konnte.57 In den darauffolgenden Jahren wurden weitere Schüler zu Hofkupferstechern ernannt und unterrichteten zum Teil dann auch selbst am Institut: Schlotterbeck, Necker, Abel, Ketterlinus,  Morace und Balleis.58 Im Gegensatz zu anderen Hofkünstlern waren die am Institut angestellten Kupferstecher nicht verpflichtet, Aufträge des Hofs anzunehmen, sondern hatten eine autonome Position. Gefertigt wurden Platten für Almanache und Galeriewerke, Visitenkarten, Urkundenvordrucke, Wappen, Vignetten, Schriften, Landkarten und Pläne.59

Am 24. Oktober 1793 starb der württembergische Herzog Carl Eugen und mit ihm auch sein Projekt „Hohe Carlsschule“. Die Kupferstecherschule blieb von der 1794 erfolgten Schließung der Carlsschule durch Herzog Ludwig Eugen (1731 bis 1795) zunächst verschont. Nach dem frühen Tod Ludwig Eugens folgte bereits im Mai 1795 dessen Bruder Friedrich Eugen (1732 bis 1797), ein den Künsten weniger geneigter Fürst. So wurde J. G. Müller und seinen Mitarbeitern 1796 gekündigt, aber zur eigenverantwortlichen Fortführung der Anstalt die in der Akademie benützten Räumlichkeiten überlassen.60 Johann Gotthard Müller schrieb im Januar 1797: Ich muß bekennen, daß ich ein solches Schicksal in keinem andern Staat gefürchtet hätte…In einem Ort, wo der größte Teil des Publikums und nicht bloß die niedere Klasse desselben so wenig Geschmack und Gefühl für die freien Künste hat und wirklich geschickte Künstler von dem gewöhnlichen Handwerker kaum zu unterscheiden weiß, müssen jene unfehlbar mutlos werden…61 Viele Künstler wanderten ab. Johann Gotthard Müller hing zu sehr an seinem Kupferstecherei-Institut und seiner Heimat, um den interessanten Angeboten aus dem Ausland nachzugeben und so führte er die Anstalt in eigener Verantwortung und eigenem finanziellen Risiko weiter.62 Zwei Jahre später versuchte Erbprinz Friedrich, der spätere König von Württemberg, J. G. Müller erneut an Stuttgart zu binden. Kurz nach seinem Regierungsantritt im Januar 1798 erhält Müller von ihm eine Pension von 600 Gulden und die Zusicherung einer vorteilhaften Wiederanstellung.63

55 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 40
56 Rümelin (wie Anm. 22), S. 91
57 Ebd. S. 88;
58 Johann Christian Schlotterbeck (1757-1811), gehörte zum Freundeskreis um Schiller; Johann Ludwig Gabriel Necker (1756- 1810); Gottlob Friedrich Abel (1773-?), stach vorzugsweise architektonische Entwürfe und Pläne; Wilhelm Christian Ketterlinus (1766-1803), ab 1799 kaiserlicher Hofkupferstecher in St. Petersburg; Ernst Morace (1766- um 1820) und Macarius Balleis (1761-1790, stach vorzugsweise architektonische Entwürfe.
59 Rümelin (wie Anm. 22), S. 92. Leybold stach als einziger neben Johann Gotthard Müller nur großformatige Historien und Porträts. Zu Leybold auch Anm. 43
60 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 43f.
61 Petermann (wie Anm. 35), S. 77
62 Rümelin (wie Anm. 22), S. 93ff.
63 Wintterlin (wie Anm. 1, S. 45.

Weitere Porträts, Historien und Stiche nach italienischen Künstlern

J. G. Müller mangelte es nicht an Aufträgen. Eine Reihe von Porträts von Künstlern, Gelehrten und Staatsmännern entstand nach Gemälden von Anton Graff (1736 bis 1813), so auch das Bildnis des August Gottlieb Spangenberg (1704-1792) in der Sammlung des Heimat- und Kunstvereins.64 Das wohl berühmteste Porträt in der Sammlung ist das 1793, ebenfalls nach Graff ausgeführte und wohl noch in zeitgenössischem Rahmen befindliche Bildnis Friedrich Schillers.65 Schiller schrieb am 26. Mai 1794 an Frauenholz in Nürnberg: Die Arbeit ist vortrefflich ausgefallen, der Stich voll Kraft und doch dabei voll Anmuth und Flüssigkeit. Auch finden es alle, die es bei mir sahen, ähnlich und mehr als sich unter diesen Umständen erwarten liess, getreu.66 Schiller selbst charakterisiert seinen Landsmann Müller in einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe: Es ist ein braver Mann, aber der Mann und seine Kunst erklären einander wechselweise; er hat ganz das Sorgfältige, Reinliche, Kleinliche und Delikate seines Griffels.67

Als eines seiner größten Meisterwerke gilt J. G. Müllers in London erschienener Stich nach John Trumbull (1756 bis 1843): „The Battle at Bunker`s Hill“. Über einen Zeitraum von zehn Jahre (von 1788 bis 1798) arbeitet J. G. Müller an diesem Werk. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Stuttgart (1797) bewunderte Goethe das noch nicht fertiggestellte Werk in J. G. Müllers Atelier und stellte es in seiner Qualität über das Originalgemälde.68

Nach diesem letzten Historienstich entstanden vor allem religiöse Werke nach italienischen Vorbildern. Das Bedürfnis, sich nach einer weiteren, seiner Kunst würdigen Arbeit umzusehen, führte unsern Meister im Frühjahr 1802 zum viertenmale nach Paris.69 Durch den Kunstraub Napoleons waren eine große Anzahl wichtiger Werke italienischer Künstler nach Paris gelangt. J. G. Müller entschied sich für die berühmte „Madonna della Sedia“ von Raffael (1483 bis 1520) als Vorlage. Noch während er die Zeichnungen anfertigte erhielt er das Angebot zum Direktor der Kupferstecherei der Wiener Akademie zu werden. Nur die schnelle Zusicherung aus Stuttgart, J. G. Müller künftig ein lebenslängliches Gehalt von 1200 Gulden zu bezahlen, konnte ihn in Württemberg halten.70

Um 1811 beginnt Müller die Arbeit an der 1817 fertiggestellten „Heiligen Katharina“ im Besitz des Kunsthändlers Frauenholz in Nürnberg. Das Gemälde galt damals noch als ein Original von Leonardo da Vinci (1452 bis 1519).71 Der von Andresen schwärmerisch als herrliches Blatt bezeichnete Kupferstich wurde der Königin von Bayern, Friedericke Wilhelmine Caroline, gewidmet.72 Parallel entstanden einige kleinere Arbeiten nach antiken Gemmen und 1805/6 nach einer antiken Achilles-Büste.73

Von 1815 bis 1819 arbeitete Johann Gotthard Müller an der – wie er selbst am oberen Rand auf der Platte bezeichnete – „30ste und letzte(n) Platte“.74 Der Stich „Mater S. nati fata requirens“ (die heilige Jungfrau mit dem Kinde) nach Leonello Spada (1576 bis 1622) zeigt nach Wintterlin75 deutliche Schwächen: Der Zweiundsiebenzigjährige mußte, das ist an diesem Blatt nicht zu verkennen, den Stichel jetzt niederlegen. J. G. Müller hatte erstmals 1802 über geschwächte Augen geklagt, arbeitete in den folgenden Jahren jedoch unermüdlich, wenn auch etwas langsamer weiter.76

64 HKV 2012-02, Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 21, S. 212
65 HKV 2012-22, Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 23, S. 213f.
66 zitiert aus Andresen (wie Anm. 2), S. 12
67 zitiert aus Wintterlin (wie Anm. 1), S. 46
68 Rümelin (wie Anm. 22), Nr.22; Henning (wie Anm. 15), S. 118ff. Das Blatt ist leider (noch) nicht in den Backnanger Sammlungen vorhanden.
69 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 46
70 Ebd. S. 46f.
71 1865 bei Andresen (wie Anm. 2), S. 17f. noch als Leonardo da Vinci;  bei Wintterlin (wie Anm. 4 – also 1885), S. 615 „jetzt für einen Luini erklärt“. Bernardo Luini (1482 bis 1532); HKV 2016-06; Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 31, S. 218
72 Andresen (wie Anm. 2), S. 18
73 HKV 2016-19; Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 34, S. 219f. Andresen (wie Anm. 2) Nr. 30, S.21f. Bei Andresen ist nachzulesen, wie gesucht 1865 frühe Abzüge von Müllers Graphiken waren. Besonders geschätzt sind Probe-Abzüge „vor der Schrift“. Andresen muss daher bereits vor Fälschungen warnen: Es sind uns betrügerische Abdrücke vor der Schrift, d. h. mit zugelegter Schrift vorgekommen.
74 HKV 2012-01; Rümelin (wie Anm. 22) Nr. 37, S. 220f.
75 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 48f.
76 Ebd.

Lithographien

Nachdem für J. G. Müller die Kupferstecherei aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich war, wich er auf das 1796/98 von Alois Senefelder (1771 bis 1834) entwickelte Steindruckverfahren , die Lithographie aus.77 Ab 1820 entstanden Bildnisse der königlichen Familie nach J. G. Müllers eigenen Entwürfen, darunter das der früh verstorbenen Königin Catharina von Württemberg (1788 bis 1819).78 Catharina wird auf diesem Blatt in einer ausführlichen Adresse gedacht, die auch das gesellschaftliche Engagement, das sich vom Bildungswesen bis zur Neuorganisation der Sozialfürsorge erstreckte, hervorhebt: „Die treue, liebevolle, mütterliche, / Welche im Leben nimmer geruht vom Schaffen des Guten, / Aber nun ruhet in Gott, Froh ihrer Werke, froh der Vollendung.“79

77 Erste Versuche mit dem neuen Steindruck-Verfahren (Lithographie), erfolgten an der Stuttgarter Akademie bereits 1807. Der Münchner Karl Strohhofer, der für sich ebenfalls die Erfindung des Steindrucks in Anspruch nahm, konnte das Interesse der Stuttgarter Künstler und Verleger wecken. Die Ergebnisse blieben jedoch weit hinter den von Strohhofer großspurig angekündigten Erwartungen zurück. Und so wurde ihm bereits nach einem Jahr wieder gekündigt. Zur Stuttgarter Lithographenanstalt ausführlich in: Max Bach: Stuttgarter Kunst 1794-1860, Stuttgart 1900; S. 256ff.
78 HKV 2016-03. Rümelin (wie Anm. 22), Nr. 38, S. 221
79 Henning (wie Anm. 15), S. 127

Die zweite Schülergeneration

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zog das Kupferstecherei-Institut in Räumlichkeiten der „Alten Kanzlei“ am Stuttgarter Schillerplatz. Zur nächsten Generation und wohl auch letzten Generation an Kupferstich-Schülern gehörten u. a. der durch seine Landschaftsdarstellungen aus Württemberg bekannt gewordene Friedrich August Seyffer (1774 bis 1845), Johann Conrad Ulmer (1780 bis 1820) und Carl Barth (1787 bis 1853).80 Der bedeutendste Schüler des Instituts sollte jedoch J. G. Müllers eigener Sohn Johann Friedrich Wilhelm Müller (1782 bis 1816) werden. 81

80 Wintterlin (wie Anm. 1), S. 49. Die Redewendung „Mein lieber Freund und Kupferstecher“ wurde durch den Dichter Friedrich Rückert (1788 bis 1866) geprägt, der mit dieser Anrede die häufigen Briefe an seinen langjährigen Freund Carl Barth begann.
81 Johann Friedrich Wilhelm Müller starb nach Fertigstellung der Platte seines berühmtesten Werkes (den Kupferstich nach Raffaels „Sixtinischer Madonna“) durch Freitod. Ebenso nahm sich sein jüngerer Bruder, der hochbegabte Eduard Christian Müller (1798 bis 1819) das Leben. Auch der oben erwähnte Kupferstecher Carl Barth nahm sich das Leben.

Johann Gotthard Müller  – Nachruhm und Abwertung der Reproduktions-Graphik

Johann Gotthard Müller starb, in seinen letzten Lebensjahren noch mit vielen öffentlichen Ehrungen überhäuft, am 14. März 1830.82 Andreas Andresen schwärmte:  Müller`s kupferstecherische Arbeiten zählen unter die bedeutendsten Leistungen nicht blos der neueren Zeit, sondern der deutschen Kupferstecherkunst überhaupt.83 Adam Bartsch (1757 bis 1821), dessen Werke zur Künstlergraphik auch heute noch als Standart-Referenz-Literatur große Bedeutung haben, schloss sich an:  Dieser vortreffliche Künstler stach die Historie und das Portrait mit gleich gutem Erfolge und kann in beiden Fächern als Muster aufgestellt werden. Richtigkeit in der Zeichnung, schöne Wirkung in Licht und Schatten, höchst reine und beständige Behandlung des Grabstichels erheben alle seine Arbeiten zu Meisterstücken, die man immer hoch schätzen wird.84 

Der sehr aufwändige Kupferstich – die königliche Technik unter den graphischen Künsten85  – verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend an Bedeutung. Techniken, die höhere Auflagen ermöglichten wie Lithographie und Holzstich, übernahmen zunächst dessen Rolle, bevor auch sie von der Photographie verdrängt wurden.

Kupferstiche – aber eben auch Reproduktionsstiche wie die Johann Gotthard Müllers und seines Sohnes – waren bei Graphiksammlern wie dem Backnanger Ernst Riecker, auch viele Jahrzehnte später noch gefragt. Ein guter Abzug der „Sixtinischen Madonna“ von Johann Friedrich Wilhelm Müller kostete Ende des 19. Jahrhunderts mehr als eine originale Dürer-Zeichnung.86

Adam Bartschs 1803 bis 1821 in 21 Bänden erschienenes Standartwerk „Le Peintre Graveur“ und auch Werke wie Andreas Andresens „Die deutschen Malerradierer des 19. Jahrhunderts“ (erschienen 1866-70) führten Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem dann im 20. Jahrhundert (von den Autoren unbeabsichtigt) zu einer deutlichen Abwertung  der Reproduktionsstecher gegenüber den „Malerradierern“, deren Graphiken nur auf eigene Vorlagen zurückgehen.  

82 Petermann (wie Anm. 35), S. 78; Wintterlin (wie Anm. 1), S. 50
83 Andresen (wie Anm. 2), S. 4
84 Bartsch – zitiert in Andresen (wie Anm. 2), S. 4
85 Petermann (wie Anm. 35), S..78: Für den Stecher ist die Radierung eine Art Erholung, wenn man will künstlerische Allortria.
86 Ebd.